Die andere Seite
(Eine unglaubliche Geschichte von Dario Abatianni (C)15.01.1995)

»Verdammte Arschlöcher!« fluchte Manfred ungehemmt. »Die glauben wohl, ich hätte Spaß daran, Ewigkeiten auf der Straße zu sitzen.« Mit einer heftigen Bewegung knallte er den Brief auf seinen Küchentisch. Langsam aber sicher hatte er das Gefühl, daß alle Welt sich gegen ihn verschworen hatte. Seit über einem Jahr hatte er nun keine neue Arbeit mehr gefunden, und das, obwohl er nicht einmal die schlechteste Ausbildung hatte. Er war ein äußerst fähiger Automechaniker, und wahrscheinlich wäre er das auch geblieben, wenn sein früherer Chef nicht so plötzlich einen tödlichen Herzanfall erlitten hätte. Sein Sohn hatte das Unternehmen weitergeführt, besaß allerdings nicht das geschäftliche und organisatorische Geschick seines Vaters. Schon bald darauf mußte er die kleine Werkstatt schließen und die Mechaniker, Manfred eingeschlossen, entlassen. Dieses Ereignis lag nun schon vierzehn Monate zurück, während der er eine Unzahl von Bewerbungen abgeschickt hatte; aber jede einzelne kam mit einer Absage zurück. Genau wie dieses Schreiben, das er heute aus dem Briefkasten geholt hatte.

Zum Glück hatte seine Freundin eine feste Arbeit. Von ihrem Lohn und seiner, wenn auch spärlichen, Arbeitslosenhilfe konnten sie die Wohnung und den kleinen Wagen bezahlen. Für andere Anschaffungen blieb meist kein Geld mehr übrig.

Es war kurz nach halb vier als Manfred begann, das Essen zu machen. Er war ein recht guter Koch; es gelang ihm immer wieder, aus den wenigen Zutaten, die ihm zur Verfügung standen, eine leckere und sättigende Mahlzeit zu bereiten. Heute waren Nudeln an der Reihe. Gebraten in der Pfanne, mit Speck, Tomatenmark, Eiern und Gewürzen. Während er kochte, verfolgte er im Radio den Wetterbericht für das Wochenende. Erfreut hörte er, daß es strahlenden Sonnenschein und blauen Himmel geben würde. Die Aussichten waren ideal für ein kleines Picknick.

Das Essen war gerade fertig und dampfte in einer Schüssel auf dem Tisch vor sich hin, als sich die Haustür öffnete. Tanja hängte die Jacke an den Haken und brachte ihre Sachen in die Küche. Plötzlich wurde es dunkel, jemand hielt ihr von hinten die Augen zu. Sie drehte sich um. »Hallo, Manfred«, begrüßte sie ihn und gab ihm einen Kuß. »Was duftet denn hier so lecker?«

»Ich hab' uns beiden was zu essen gemacht«, erwiderte Manfred, während er ins Wohnzimmer vorausging. »Nur eine Kleinigkeit.«

Als Tanja ins Zimmer kam, blickte sie ihn überrascht an. »Das nennst du eine Kleinigkeit? Das sieht ja wunderbar aus.«

Manfred war gerade dabei, Teller und Besteck auf den Tisch zu bringen. »Ich hoffe, daß es dir auch schmeckt.«

»Das bezweifle ich nicht«, sagte Tanja, als sie sich ihre erste Portion auf den Teller lud. Manfred setzte sich indessen zu ihr an den Tisch und bediente sich ebenfalls. Wie sie erwartet hatte, war ihm seine Kleinigkeit wieder vollkommen gelungen.

»Hattest du heute viel zu tun?« fragte Manfred zwischen zwei Bissen.

»Nein, es war eigentlich nicht viel los. Zwei Dauerwellen und etliche Kurzhaarschnitte. Nichts sehr Aufregendes.« Sie schob sich eine weitere Gabel voller Nudeln in den Mund. »Und wie hast du heute den Tag verbracht?«

»Ich glaube, mein Tag war noch langweiliger als deiner. Heute morgen war ich einkaufen, habe mir die Stellenangebote durchgelesen und eine Absage weggeworfen. Das Übliche eben.« Manfred gelang es, trotz des Rückschlages am Morgen ein Lächeln zustande zu bringen.

Tanja schüttelte den Kopf. »Bei der Masse an Autos, die jetzt auf der Straße unterwegs ist, sollte man eigentlich meinen, daß die Automechaniker Hochbetrieb haben.«

Sie genossen das gute und reichliche Abendessen und unterhielten sich über belanglose Dinge. Schließlich, als sie beide satt und die Teller leer waren, machten sie sich an den Abwasch. Da sie, Lewis ausgenommen, nur zu zweit lebten, brauchten sie nicht jeden Tag zu spülen, aber in den letzten vier Tagen hatte sich dennoch eine Menge Geschirr und Besteck angesammelt. Schließlich war auch diese - zugegeben lästige - Pflicht getan, und so konnten sie sich endlich ausruhen. Zumindest konnte Tanja sich vor dem Fernseher entspannen, Manfred studierte in der Zeit die Stellenangebote in der Zeitung, die sie, wie es ihre Gewohnheit war, mitgebracht hatte. Als er auch hier nichts finden konnte, verhinderte eigentlich nur noch Lewis einen weiteren Tobsuchtsanfall, indem er Manfred genau in dem Moment auf den Schoß sprang, als dieser gerade wütend werden wollte. Abwesend faltete er die Zeitung zusammen und streichelte den rotgetigerten Kater, der es sich mittlerweile bequem gemacht hatte.

Manfred lag bereits im Bett, während Tanja noch im Badezimmer war. Er hörte das leise Rauschen des Wasserhahnes und ein gelegentliches Klappern verschiedener Utensilien. »Ich hab' mir etwas überlegt«, kam ihre Stimme gedämpft zu ihm herüber. »Wir könnten doch mal eine Woche Urlaub machen.«

»Und an was hattest du da gedacht?«

»Wir könnten ja zu meiner Mutter fahren. Du weißt doch, daß sie ein kleines Haus auf dem Land hat. Dort wären wir dann völlig ungestört.« Sie löschte das Licht im Bad und kam ins Schlafzimmer. »Außerdem täte dir ein Tapetenwechsel auch ganz gut.«

»Das kann man wohl sagen. Nach und nach fällt sogar einem Langeweiler wie mir einmal die Decke auf den Kopf.«

»Nun mach aber mal einen Punkt«, sagte sie. »Ich habe nie behauptet, daß du langweilig bist.« Sie zog sich aus und legte sich zu ihm ins Bett. Sie spürte, daß er etwas Zuspruch gebrauchen konnte. »Du kannst doch nichts dafür, daß es im Moment so schlecht läuft. Und das ewige Einerlei macht dich noch ganz fertig. Eine Woche Ruhe wird uns beide wieder aufrichten.«

Manfred sagte nichts, sondern starrte nur an die Decke.

»Aber in der Zwischenzeit kann ich ja versuchen, dich ein wenig zu trösten.« Damit schmiegte sie sich an ihn und ließ ihre Hand über seine Brust gleiten.

Manfred genoß diese zärtliche Berührung und legte schließlich einen Arm um sie. Sie verstand es immer wieder, ihn aus seinen Selbstvorwürfen zu reißen. Und sie hatte eine ganz spezielle Art, ihn zu trösten. Das hatte er bereits vor zwei Jahren erfahren, als sie sich kennengelernt hatten. Er war dem, bis heute unbekannten, Autofahrer nachträglich noch dankbar, daß er vor ihm so scharf bremsen mußte. Denn sonst wäre sie ihm nie hinten aufgefahren, und sein Leben hätte einen entscheidenden Glücksfall verpaßt.

Aber das wußte er zu jenem Zeitpunkt noch nicht. Er war einfach nur wütend gewesen, daß ihm so etwas gerade auf dem Weg zur Arbeit passieren mußte. Er schaltete die Warnblinkanlage ein und stieg aus, um sich den Schlamassel anzusehen. Das erste, was er sah, war die aufregende Rückansicht eines jungen Mädchens, offensichtlich die Fahrerin des anderen Wagens. Sie war ebenfalls ausgestiegen und hatte sich zur Stoßstange hinuntergebeugt. Als sie bemerkte, daß Manfred hinter ihr herankam, richtete sie sich wieder auf und drehte sich zu ihm herum.

»Ich war ganz in Gedanken-«

»Entschuldigen Sie, aber ich-« begannen sie gleichzeitig. Sie schwiegen einen Augenblick und begannen dann wieder zugleich zu reden. Manfred mußte lachen, und das Mädchen stimmte ein. Dann sah er sich den Schaden an und stellte fest, daß sie anscheinend noch einmal Glück gehabt hatten. Er konnte nichts erkennen.

»Ich hoffe, Ihnen ist nichts passiert«, sagte sie, während sie in ihrem Portemonnaie nach einem Ausweis kramte.

»Nein, es geht mir bestens. Und auch der Schaden scheint sich in Grenzen zu halten.« Sie tauschten ihre Adressen aus und machten dann die Straße wieder für den restlichen Verkehr frei. Als er dann ein paar Tage später mit einem Blumenstrauß als Entschuldigung bei ihr aufgetaucht war, war der Funke auf beiden Seiten übergesprungen. Am gleichen Abend gingen sie miteinander aus. Er lud sie in das beste Restaurant ein, das er kannte. Bei romantischem Kerzenschein kamen sie sich langsam näher. Manfred erfuhr, daß sie eine leidenschaftliche Hobbymalerin war, und er erzählte ihr von seinem Nachbau der Titanic, die er in allen Einzelheiten nachgebildet hatte. Die leise Musik und nicht zuletzt auch das hervorragende Essen trugen dazu bei, den Abend zu einem unvergeßlichen Ereignis zu machen. Nach dem Essen schlenderten sie noch eine ganze Zeit lang in der Stadt herum, bis er sie dann spät in der Nacht nach Hause brachte. Seit diesem Tag trafen sie sich regelmäßig, und schon bald war sie bei ihm eingezogen.

*

Wenige Tage später waren sie unterwegs. Der Wetterbericht hatte nicht untertrieben. Nur wenige Wolken waren am strahlend blauen Himmel zu sehen. Manfred lenkte den roten Tercel über die Landstraße, während seine Freundin am Autoradio einen passablen Sender suchte. Als sie enttäuscht aufgeben mußte, legte sie eine Cassettenaufnahme von Lakes Voices ein, die kurz darauf mit dem ersten Song die Stille durchbrach. Manfred tippte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum, und Tanja sang leise die zweite Stimme zur Musik mit. Sie hatten beide eine Vorliebe für Pop-Balladen, und die Musik von Lake hatte etwas Besonderes an sich, nichts, was man direkt beschreiben konnte, aber es war dennoch deutlich zu spüren. Lewis lag schnurrend auf Tanjas Schoß, während sie ihm verträumt mit den Fingern durchs Fell fuhr.

Die Cassette war beinahe zu Ende, als sie endlich ihr Ziel erreichten. Ein einsam gelegenes Häuschen auf einer eingezäunten Wiese, die hier und da mit Bäumen bestanden war. Wenige hundert Meter weiter grenzte das Grundstück an einen Wald, dessen Blätter in der sommerlichen Wärme glitzerten. Manfred parkte den Automatic neben dem Tor, das auf den Weg zum Haus führte, wo auch schon ein weißer Mercedes seinen Platz gefunden hatte. Tanjas Mutter stand bereits in der Tür und kam nun zu ihnen herüber. Die Scharniere des Gitters quietschten leicht, als sie es öffnete. Manfred stellte den Motor ab, zog die Handbremse an und löste seinen Sicherheitsgurt. Tanja war bereits mit Lewis ausgestiegen, um ihre Mutter zu begrüßen. Ihr Freund begann indessen, den ersten Koffer ins Haus zu tragen.

»Wo soll ich das hinbringen, Elke?« fragte er, als Tanja mit ihrer Mutter ins Haus kam und deutete auf sein Gepäck.

»Bring ihn am besten nach oben, die Tür steht offen«, sagte Elke und wies auf die hölzerne Wendeltreppe. Manfred nickte und ging die, mit schwarzem Teppich ausgelegten, Stufen hinauf.

»Wie lange bist du schon hier?« fragte Tanja zu ihrer Mutter gewandt.

»Ein paar Stunden«, antwortete sie. »Ich habe hier ein wenig saubergemacht und ein kleines Mittagessen gekocht. Ihr müßt ja ziemlich hungrig sein.«

»Na ja, so lange hat die Fahrt nun auch wieder nicht gedauert. Aber gegen eine Mahlzeit hätte ich auch nichts einzuwenden.« Sie bückte sich und ließ Lewis frei. »Ich glaube, wir sollten den Rest der Sachen holen«, meinte sie, als Manfred wieder die Treppe herunterkam. Gemeinsam brachten sie ihre Koffer und Taschen ins Haus, und Manfred stellte in der Küche Lewis' Freßnapf und die Katzentoilette auf. Als sie sich eingerichtet hatten, rief Elke sie zum Essen ins Wohnzimmer. Auf dem, mit einem weißen Tuch gedeckten, Tisch standen drei Schüsseln und eine große Porzellanplatte, auf der knusprig-braune Hähnchenschenkel lagen. In den großen Glasschalen dampften Kartoffeln, Rotkohl und eine von Elkes speziellen Bratensoßen. Alles in allem war es eine Menge, die für fünf Personen leicht genügt hätte. So war es auch kein Wunder, daß nach dem Essen noch so viel übrig war, daß es fürs Abendessen reichen würde. Eine Stunde später verabschiedete sich Tanjas Mutter, wünschte ihnen eine erholsame Woche und fuhr mit dem Benz davon.

Später am Abend stand Tanja vor einer noch weißen Leinwand, die sie neben dem großen Fenster aufgestellt hatte. Der glühend-rote Sonnenuntergang schien ins Wohnzimmer und versetzte sie in die richtige Stimmung für ein Gemälde. Manfred war indessen dabei, das Haus zu erforschen, denn er war zum ersten Mal hier und kannte die einzelnen Räume noch nicht so gut wie seine Freundin. Besonders hatte es ihm der Dachboden angetan, denn dort standen die verschiedensten Sachen kreuz und quer durcheinander. Viele davon waren mit Tüchern abgedeckt, um den Staub fernzuhalten. Manfred liebte es, den Stoff beiseitezuziehen und die darunter verborgenen Gegenstände zu entdecken. Die meisten waren uralte Möbel, kleine Kommoden, Sessel und dergleichen. Weit hinten in einer dunkleren Ecke des Dachbodens fand er einen weiteren abgedeckten Gegenstand. Er war beinahe mannshoch, etwa sechzig bis siebzig Zentimeter breit und weniger als fünf Zentimeter dick, ausgenommen unten. Manfred hob das Tuch an und spähte darunter. Er blickte in ein Gesicht, das ihn erstaunt ansah. Er wollte schon aufschreien, als er sich selbst erkannte. Er hatte sein eigenes Spiegelbild gesehen.

Er lachte immer noch über seine eigene Ängstlichkeit, als er den großen Spiegel die Treppe hinunter zu seiner Freundin trug. Das Tuch hatte er wieder darübergeschlagen. Als Tanja ihn bemerkte, wandte sie sich um und zog die Augenbrauen hoch. »Was hast du denn da?«

Manfred stellte seine Last mitten im Zimmer ab. »Komm hierher, dann zeig' ich es dir.« Er winkte sie zu sich heran. Belustigt stellte sie sich neben ihn. Mit einer dramatischen Geste enthüllte er seinen Fund.

Tanja stieß einen entzückten Schrei aus. »Manfred, der ist ja wunderschön!« Sie fuhr mit den Fingern über den sorgfältig geschnitzten Rahmen. Es waren allerlei Figuren abgebildet, die sich gegenseitig festhielten. Dafür war die Spiegelfläche selbst nicht ganz eben. Leichte Wellen durchzogen das Spiegelbild, während sie sich gegenseitig betrachteten. Doch für Manfred war es eines der schönsten Stücke, die er je gesehen hatte.

Als sie schließlich ins Bett gingen, hatte der Spiegel seinen Platz im Wohnzimmer neben dem Kamin gefunden. Tanja und Manfred lagen nebeneinander in dem großen Bett des Schlafzimmers, und sie war froh, daß sie am nächsten Morgen nicht früh aufstehen mußte. Denn dann hätten sie ihre erste Nacht hier nicht so unbeschwert ausleben können.

Als Manfred erwachte, war es gerade drei Uhr. Nächtliches Schweigen lag über dem Haus. Von draußen war leises Blätterrauschen zu hören, aber sonst war alles still. Er drehte sich herum und wollte weiterschlafen, aber eine merkwürdige Unruhe hatte ihn erfaßt. Tanja lag friedlich neben ihm im Bett und schlief. Scheinbar spürte sie nicht dieses merkwürdige Drängen. Leise, um sie nicht unnötig zu wecken, stand er auf und zog sich eine kurze Hose an. Barfuß ging er langsam die Treppe zum Wohnzimmer hinunter. Im Dunkel, an der Stelle, wo die Haustüre sein mußte, blinkte die kleine rote Leuchte, die anzeigte, daß die Alarmanlage aktiv war. Unten angekommen schaltete er das Licht ein. Einen Augenblick lang konnte er nichts sehen, dann aber gewöhnte er sich an die Helligkeit und blickte sich um. Es sah alles so aus wie gestern abend. Aber trotzdem schien irgendetwas nicht zu stimmen. Verwundert ging er im Raum herum, suchte nach einem Anhaltspunkt, nach etwas Ungewöhnlichem. Er konnte nichts finden. Als er schließlich das Wohnzimmer verlassen wollte, kam er an dem großen Spiegel vorbei. Er blieb stehen und betrachtete sein Ebenbild. Dann tippte er sich mit dem Finger an die Stirn. So was Blödes, dachte er. Mitten in der Nacht aufzustehen und sich wer weiß was einzubilden. Er schüttelte den Kopf und ging weiter. Plötzlich blieb er wieder stehen. Sein Spiegelbild war absolut klar gewesen. Er ging nochmals zurück. Tatsächlich, die Spiegelfläche war vollkommen glatt. Dann fiel sein Blick auf die Figuren am Rand. Sie standen auf dem Kopf. Gerade als er sich fragte, wie das möglich war, fiel ihm die Aufhängung des Spiegels auf. Scheinbar ließ er sich in der Mitte um die Horizontalachse drehen. Manfred drückte gegen den Rahmen, und tatsächlich klappte er herum. Auf der anderen Seite kam wieder die wellige Oberfläche des anderen Spiegels zum Vorschein. Erleichtert über die simple Antwort auf seine Frage, drehte er den Spiegel nochmals herum, damit wieder die ebene Seite vorne war. Er wandte sich um und wollte gerade zur Treppe gehen, als er über etwas stolperte. Er erkannte gerade noch Lewis' rotgetigertes Fell zwischen seinen Beinen, als er auch schon rücklings gegen den Spiegel fiel. Aber anstelle eines harten Aufpralls auf der Glasoberfläche spürte er nur ein eigenartiges Saugen. Plötzlich war alles in Nebel gehüllt, und er konnte nichts mehr sehen.

Das erste, was er wieder bewußt fühlte, war die Kälte. Ein eisiger Wind wehte die Nebelschwaden an ihm vorüber, und sein ungeschützter Körper zitterte. Er blickte sich um. Vor ihm waren nur weiße Dunstfäden, hinter sich sah er ein rechteckiges, pechschwarzes Loch im Nebel. Ungläubig starrte er in die dunstigen Schwaden, die sich um ihn herum ausbreiteten. Er fror. Wo war er hier? Träumte er noch, oder war es Wirklichkeit? Sein Verstand sagte ihm, es müsse ein Traum sein, aber sein Gefühl widersprach dieser Behauptung. Langsam und vorsichtig tastete er sich voran, durch das schwarze Loch im Nebel. Die Dunkelheit verzog sich langsam, und er sah die vertrauten Umrisse des Wohnzimmers. Je weiter er ging, desto wärmer wurde es. Bald schon war er wieder an der Treppe angekommen. Alles war genau so, wie er es verlassen hatte. Er war wohl vollkommen übermüdet, seine Phantasie hatte ihm wahrscheinlich einen Streich gespielt. Er blickte sich nochmal um und sah Lewis, wie er vor dem Spiegel saß und leise maunzte. Dann ging Manfred die Treppe hinauf und vergaß in seiner Verwirrung, das Licht abzuschalten.

*

Der nächste Morgen begrüßte Tanja mit einigen wärmenden Sonnenstrahlen, die ihre Nase kitzelten. Sie reckte sich ein wenig und griff dann zu Manfred hinüber. Aber er schien noch tief und fest zu schlafen. Sie zuckte mit den Schultern, zog sich an und ging ins Badezimmer.

Als sie sich für den Tag fertiggemacht hatte, ging sie die Treppe hinunter und bemerkte, daß das Licht im Wohnzimmer brannte. Sie schaltete es ab. Auf dem Weg in die Küche sah sie Lewis, der sich vor dem Spiegel zu einer Fellkugel zusammengerollt hatte. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, daß es ein vollkommener Sommermorgen war. Sie beschloß, nach dem Frühstück in die nahegelegene Stadt zu fahren, um einzukaufen.

Nun endlich erwachte auch Manfred, der sich gestern abend einfach nur noch auf das Bett gelegt hatte, ohne sich zuzudecken. Tanja war bereits unten, denn ihre Betthälfte war verlassen. Also stand er auf, wusch sich und ging dann zur Treppe. Auf halbem Wege nach unten sah er sie, wie sie den Frühstückstisch deckte. Lewis lag immer noch vor dem Spiegel, als hätte er sich seit gestern nacht nicht mehr bewegt. Das erinnerte ihn an seinen merkwürdigen Traum. Nebel! Kälte! Genau das Gegenteil von dem, was ihn unten erwartete. Die Sonne schien ins Wohnzimmer und zauberte lange helle Flecken auf den Teppichboden.

»Guten Morgen, du Schlafmütze«, kam Tanjas Stimme aus der Küche. Sie trug ein Tablett mit Brot und Marmelade herein. Nachdem sie es auf dem Tisch abgestellt hatte, gab sie ihm einen Kuß. Während sie aßen, dachte Manfred nach. Der Traum, den er gehabt hatte, erschien ihm so wirklich. Unwillkürlich fiel sein Blick auf den Spiegel. Die Figuren standen auf dem Kopf! Er vergaß einen Augenblick lang zu kauen und starrte den Rahmen an. Dann bemerkte er, daß Tanja etwas gesagt hatte, und er wandte seine Aufmerksamkeit wieder ihr zu. »Hm? Was?«

»Du bist wohl noch nicht ganz wach, oder? Ich sagte, wir sollten heute einkaufen fahren, sonst haben wir nichts zu essen im Haus.«

»Gute Idee«, meinte er und kaute endlich weiter. »Dann kann ich uns ja wieder was kochen.«

»Ich warte schon darauf«, sagte sie mit einem so sehnsüchtigen Blick, daß er lachen mußte.

Er erschrak ein wenig, als Lewis ihm an den Beinen vorbeistrich. »Ach du bist es«, meinte er erleichtert und streichelte den Kater. »Du willst wohl auch dein Frühstück, was?« Er stand auf und ging in die Küche. Lewis folgte mit leise gurrenden Lauten. »Der tut wieder so, als hätte er eine Woche lang nichts zu fressen bekommen«, beschwerte sich Manfred, als er ins Wohnzimmer zurückkam.

Tanja lachte. »Das macht der doch immer. Und dann kommt er eine Minute später zurück, als wäre nichts geschehen. Siehst du?« sagte sie, als die Katze zufrieden aus der Küche kam und sich zu putzen begann. Wenig später ging sie wieder zum Spiegel und legte sich hin.

»In letzter Zeit ist Lewis wohl reichlich eitel geworden«, meinte Tanja belustigt.

Manfred fand das gar nicht komisch.

Nachdem sie vom Einkauf zurückkamen, war es auch schon bald wieder Essenszeit. Manfred kochte eine Suppe aus allen möglichen Sachen, die er mit seiner Freundin eingekauft hatte. Am Ende war mehr Einlage als Suppe im Topf, aber dafür schmeckte es um so besser. Später arbeitete Tanja an ihrem Bild weiter, während Manfred ihr zusah. Er konnte stundenlang einfach nur so dasitzen und sie beobachten, es wurde ihm nie langweilig. Ihre welligen, braunen Haare faszinierten ihn ebenso wie die im Kontrast dazu hellgrauen Augen. Und daß sie beinahe genauso groß war, wie er, fand er eher aufregend, als wenn sie kleiner gewesen wäre. Und er war mit seinem Meter fünfundsiebzig auch nicht gerade ein Riese. Das Bild nahm langsam eine konkrete Form an. In der Mitte der Sonnenuntergang, leuchtende Gelb- und Rottöne, die im Himmelsblau verwischten. Darunter dann der Wald und die Wiese, die das Haus umgab. So in die Betrachtung des Bildes versunken, vergaß er den Spiegel und seinen Traum.

Allerdings konnte er ihn nur bis zur Nacht vergessen, denn auch dieses Mal erwachte er, weil er ein merkwürdiges Gefühl verspürte. Er wußte, es hatte mit dem Spiegel zu tun. Also stand er auf, zog sich an und ging die Treppe zum Wohnzimmer hinunter. Doch irgend etwas war anders. Aus dem Spiegel kam ein leichtes Licht, das den Raum erhellte. Er blickte in den Spiegel hinein und sah den Nebel, der auf der anderen Seite wallte. Vorsichtig streckte er den Arm aus und griff in den Dunst hinein. Seine Hand verschwand hinter der Glasoberfläche im Nebel. Wieder verspürte er dieses merkwürdige Saugen. Er wurde in den Spiegel hineingezogen. Er versuchte, sich dagegenzustemmen, aber dann verließen ihn seine Kräfte, und er verschwand im Spiegel. Wieder spürte er die Kälte, doch diesmal war sein Körper nicht ungeschützt. Wieder umgaben ihn dichte Dunstfäden. Wie auch zuvor ging er los, doch dieses Mal nicht in die Richtung des dunklen Loches, sondern genau entgegengesetzt, immer tiefer in den Nebel hinein. Aber trotzdem kam er wieder in dem Wohnzimmer des Hauses heraus, wo sie ihren Urlaub verbrachten. Plötzlich hörte er ein Knurren hinter sich. Lewis hatte die Ohren angelegt und fauchte ihn an. Er wollte sich zu ihm hinunterbeugen, um ihn zu beruhigen, aber die Katze rannte vor ihm weg die Treppe hinauf. Manfred folgte ihr und kam ins Schlafzimmer, wo Tanja friedlich im Bett lag und schlief. Dann war ein lauter Knall von unten zu hören. Lewis, dachte Manfred, doch die Katze saß auf dem Bett und starrte ihn mißtrauisch an. Als dann das laute Heulen der Alarmanlage losging, wußte er, was geschehen war.

Tanja erwachte. »Manfred?« fragte sie.

»Ja?«

Sie schien ihn nicht gehört zu haben, denn sie drehte sich zu seiner Betthälfte um. Ein weiteres Scheppern ließ sie aufhorchen. Sie warf sich ihren Morgenmantel über und ging direkt an Manfred vorbei zur Treppe. Er wollte sie aufhalten, doch er griff durch sie hindurch. Verdutzt blieb er stehen, während Tanja ins Wohnzimmer hinunterblickte.

»Manfred, bist du das?« rief sie. Unten war der Lichtkegel einer Taschenlampe zu sehen, der hin- und herbewegt wurde. Plötzlich wurde er nach oben gerichtet und strahlte die beiden an. Manfred stellte entsetzt fest, daß nur ein einziger Schatten an der Wand zu sehen war.

»Bleiben Sie, wo Sie sind!« sagte eine unbekannte männliche Stimme. Sie klang dumpf, als hätte der Mann eine Maske auf. »Eine falsche Bewegung, und ich werde schießen.«

Tanja wagte kaum zu atmen, als der Fremde die Treppe heraufkam. Sie hatte furchtbare Angst. Wo war Manfred? Hatte er ihn etwa schon... Nein! Das durfte nicht sein. Bestimmt war er in Sicherheit. Aber sie wünschte sich so sehr, daß er bei ihr wäre.

»Drehen Sie sich um, aber langsam!« befahl der Unbekannte. Sie gehorchte. Als ihr die Hände auf dem Rücken zusammengebunden wurden, schrie sie kurz auf, und der Fremde brachte sie ins Schlafzimmer. Dort stieß er sie aufs Bett und verließ den Raum. Draußen schloß er die Tür ab.

Ohnmächtig hatte Manfred die Geschehnisse beobachtet. Er hatte versucht, den Eindringling aufzuhalten, aber er bekam ihn nicht zu fassen. Machtlos mußte er zusehen, wie seine Freundin gefesselt und eingesperrt wurde. Er trat nach ihm, schrie ihn an, aber es war, als wäre er gar nicht da, als würden ihn die anderen nicht einmal bemerken.

Fünf Minuten später stellte der unbekannte Mann eine vollgepackte Sporttasche neben der Haustür ab und kam dann langsam nach oben. Vor der Schlafzimmertür blieb er stehen. Dahinter war leises Weinen zu hören. Er schloß auf und betrat den Raum. Dann stieß er die Tür zu. Manfred hörte, wie Tanja verzweifelt aufschrie, und plötzlich knallte ein Schuß. Dann kam der Fremde aus dem Zimmer gerannt und flüchtete die Treppe hinunter. Manfred, der ihn nicht aufhalten konnte, stürmte ins Schlafzimmer und fand seine Freundin, wie sie auf dem Bett lag, nackt und aus einer Bauchwunde blutend. Sie rührte sich nicht mehr.

Die Sirene heulte noch weitere fünf Minuten, bis schließlich ein grün-weißer Wagen vor dem Haus hielt. Eine Tür wurde aufgebrochen und wenige Sekunden später verstummte der Alarm. Manfred konnte leise Stimmen hören, die vom Wohnzimmer heraufklangen. Endlich kam Hilfe.

»Ist jemand hier?« Eine dunkle Stimme von unten.

»Ja, hier oben!« antwortete Manfred. »Kommen Sie bitte schnell hierher.«

»Hallo? Ist hier jemand?«

Wieder hatte ihn niemand gehört. Wie sollte er den Männern klarmachen, wo sie suchen sollten? Plötzlich begann Lewis mitleiderregend zu miauen.

»Michael, ich suche hier unten weiter, du gehst rauf. Vielleicht ist jemand verletzt.«

»In Ordnung.« Schnelle Schritte stiegen die Treppe empor. Manfred wandte sich zur Tür und sah, wie ein Mann mit einer Polizeiuniform heraufkam. Er hatte die Pistole gezogen und spähte jetzt vorsichtig um die Ecke. Als er Tanja auf dem Bett liegen sah, zog er sofort ein Funkgerät vom Gürtel und steckte die Waffe weg. »Hier K-35«, meldete er sich. »Wir brauchen sofort einen Notarztwagen für die Moselstraße Nummer 265. Bauchschußwunde, vermutlich hoher Blutverlust. Ende.«

»Verstanden, K-35«, sagte eine weibliche Stimme aus dem Gerät, und der Beamte ging zu Tanja hinüber. Manfred schenkte er keine Beachtung. »Jürgen!«

»Ja?« kam es von unten.

»Hier oben ist jemand verletzt. Ich habe einen Krankenwagen angefordert.« Während er sprach, prüfte er den Puls des jungen Mädchens. Als er feststellte, daß sie noch lebte, begann er, die restlichen Räume abzusuchen. Lewis rieb immer wieder seinen Kopf gegen Tanjas Kinn, doch sie regte sich nicht.

Endlich traf der Krankenwagen mit jaulendem Martinshorn ein. Zwei Sanitäter rannten mit einer Trage die Treppe hinauf und betteten die Bewußtlose auf den weißen Stoff. Manfred folgte ihnen hinunter, und sie hielten ihn nicht auf, als er zu ihr in den Wagen stieg. Einer der Helfer nahm auf dem Fahrersitz Platz, während sich der andere um das Mädchen kümmerte.

Die rasante Fahrt zum Krankenhaus schien Ewigkeiten zu dauern, aber schließlich hielt der Wagen vor einem großen, weiß angestrichenen Gebäude. Dort wurde Tanjas Trage ausgeladen und in die Notaufnahme gebracht. Die Pfleger übergaben sie an zwei Ärzte, die sich um sie kümmerten und sofort eine Notoperation vorbereiteten. Niemand sah den jungen Mann, der keine Sekunde von der Seite des Mädchens wich. Als schließlich alles überstanden war, befand sich Manfred allein mit Tanja und einigen piepsenden Geräten auf der Intensivstation. Er hatte furchtbare Angst um sie. Während der Operation hatte er genau mitbekommen, wie es um sie stand. Da die Ärzte nicht wußten, daß sie jemand beobachtete, sprachen sie offen über die Überlebenschancen ihrer Patientin. Und die schienen nicht besonders hoch zu sein. Ein Beatmungsgerät zischte in regelmäßigen Abständen, doch das trug nicht dazu bei, ihn zu beruhigen. Im Gegenteil. Dieses Geräusch erinnerte ihn eher an ein bösartiges Wesen, das nur darauf wartete, zuzuschnappen.

Er dachte über seine Situation nach. Irgendetwas war passiert. Niemand konnte ihn sehen oder hören. Er konnte keine Gegenstände berühren oder verschieben. Er war sozusagen gar nicht da. Er konnte auch seiner Freundin nicht helfen. Die Art, wie sie so dalag, an all diese Maschinen und Schläuche gebunden, rief in ihm eine schreckliche Vorstellung wach. Wenn sie nun sterben würde? Was, wenn sie ihre Verletzung nicht überstände? Er wirbelte herum, rannte hinaus, brach schließlich auf dem kurzgeschnittenen Rasen vor dem Gebäude zusammen und begann hemmungslos zu schluchzen.

Er erschrak, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. Als er sich umblickte, sah er eine ältere Frau, die sich neben ihm ins Gras gehockt hatte. Es war Elke, Tanjas Mutter.

»Ich habe gehört, was passiert ist«, sagte sie. »Wie geht es ihr? Die Ärzte wollen mich nicht zu ihr lassen.«

»Sie...« Er schluckte. Dann versuchte er es erneut: »Sie ist schwer verletzt. Dieser verdammte Bastard hat ihr in den Bauch geschossen!« Er sah seinen eigenen Schmerz im Gesicht der Frau. »Ich konnte nichts tun. Ich konnte ihn nicht aufhalten.« Jetzt erst bemerkte er, daß sie ihn gesehen, ihn berührt hatte. »Warum-« setzte er an.

»Ich bin durch den Spiegel zu dir gekommen, nachdem ich wußte, wohin du gegangen warst.«

»Aber woher wußtest du das?«

»Lewis hat es mir gesagt. Er wanderte die ganze Zeit vor dem Spiegel auf und ab. Da wußte ich, warum du verschwunden warst.«

Überrascht und auch erleichtert hob er die Augenbrauen. »Dann weißt du also von dem Spiegel?«

»Natürlich«, gab sie zurück. »Ich habe ihn vor langer Zeit einmal auf einem Trödelmarkt zusammen mit einem Kerzenständer von einem Mann gekauft, der die Macht dieses Möbels nicht kannte. Ich allerdings habe mich bereits in jungen Jahren mit übersinnlichen Dingen beschäftigt, und so erkannte ich beinahe sofort den wahren Wert des Spiegels.« Manfred war mittlerweile aufgestanden und starrte sie ungläubig an. »Auch der Kerzenständer - oder mehr das, was in ihm ist - besitzt eine gewisse Macht«, fuhr sie fort. »Mit seiner Hilfe können wir Tanjas Leben retten, wenn wir uns beeilen. Komm mit, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.«

Schatten und undeutliche Bilder zischten vor ihren Augen vorbei. Da war ein Geräusch, wie das Weinen eines Menschen, sie spürte Schmerzen, in ihren Armen, in ihrem Bauch. Er pochte dumpf, wie ein zweites Herz. Dann ein greller Lichtblitz und ein lauter Knall. Die Schmerzen brannten plötzlich wie Feuer, eine Welle heißer Nadeln durchstach ihren Körper. Sie bäumte sich auf, versuchte zu entkommen. Jemand hielt sie fest. Geisterhafte Stimmen sprachen wild durcheinander. Wieder stach sie eine Nadel. Dann wurde sie schwächer. Die Gestalten ließen sie los. Sie versank erneut in die Dunkelheit.

Elke nahm Manfred bei der Hand und begann zu laufen. Sie lief schneller, als er einer Frau von beinahe fünfzig Jahren zugetraut hätte. »Wenn ich jetzt rufe, springst du.«

»Ich soll was?«

»Frag nicht lang, tu, was ich dir sage.«

Sie rannte weiter, zog ihn mit sich. Er wußte nicht, was er nun davon halten sollte, aber was sollte er schon tun. Also lief er neben ihr her und hielt sich bereit.

»Jetzt!« rief sie. Beide sprangen in die Luft. Gerade, als sie wieder dem Boden entgegensanken, wallte Nebel um sie herum, und plötzlich tauchte dicht vor Manfreds Augen das dunkle Viereck auf, das er bereits zweimal gesehen hatte. Sie flogen direkt durch es hindurch, der Schrei einer Katze war zu hören, und plötzlich landeten sie im Wohnzimmer des Landhauses. Manfred war so verwirrt, daß er vergaß, sich abzufangen, und so fiel er der Länge nach auf den mit Teppich ausgelegten Holzboden. Es dauerte mehrere Sekunden, bis er wieder soweit bei Sinnen war, daß er aufstehen konnte.

Elke war nicht zu sehen. Er schüttelte verwirrt den Kopf. Wie waren sie so schnell hierher gekommen? Dann sah er das Licht, das von der Küche aus ins Zimmer schien. Er ging zur Tür und blickte in den Raum. Er sah Elke, wie sie sich stirnrunzelnd umsah. Als sie Manfred bemerkte, wandte sie sich um. »Hast du hier irgendwo einen Kerzenständer aus Gold gesehen?« fragte sie.

»Ja, der stand auf dem Regal, gleich neben der Dose mit Pfeffer.« Er wußte es deshalb so genau, weil er ihn gestern beinahe heruntergeworfen hätte, als er die Suppe würzen wollte. Doch dort, wo er ihn gesehen hatte, war nur ein weißer Fleck an der Wand. »Verdammt, den muß dieser Kerl mitgenommen haben!« Er dachte daran, daß gerade dieser Gegenstand Tanjas Leben retten konnte.

Wie betäubt ließ er sich auf einen der Küchenstühle sinken. Elke nahm ihm gegenüber Platz und hielt seine Hände in ihren. »Jetzt gib nicht so schnell auf«, sagte sie. »Wir werden es schon schaffen. Der Spiegel wird uns helfen.«

»Wie?«

»Durch eine seiner besonderen Fähigkeiten. Wie du ja schon gesehen hast, kann er dich von einem Ort zum anderen bringen. Du mußt dir diesen Platz nur genau vorstellen und dann springen. Allerdings geht das nur, wenn du auf der anderen Seite bist.«

»Die andere Seite?«

»Ja, wenn dich niemand sieht und du nichts berühren kannst. Noch dazu mußt du den Ort genau kennen, den du anspringen willst. Aber was für uns viel bedeutender ist: Der Spiegel kann Gegenstände finden und dich zu ihnen bringen, auf der anderen Seite, versteht sich.«

Jetzt verstand auch Manfred, was sie meinte. »Dann kann ich ja nach dem Kerzenständer suchen und später dorthin fahren.«

»Ja, aber jetzt fährst du mich erst einmal zum Krankenhaus.«

Eine halbe Stunde später war Manfred wieder im Landhaus. Die Polizei hatte ihre Spurensicherung wahrscheinlich schon lange beendet, und da Elke, die Besitzerin, bereits Bescheid wußte, war niemand mehr hier. Er schloß auf und ging hinein. Drinnen war es finster, aber er brauchte kein Licht. Er legte den Auto- und den Türschlüssel auf den Wohnzimmertisch und stellte sich dann vor den Spiegel. Eine dunkle Silhouette wurde von der ebenen Glasoberfläche reflektiert. Langsam näherte er sich seinem Spiegelbild. Kaum hatte seine Hand die Platte berührt, wurde er auch schon wieder auf die andere Seite gezogen.

Diesmal wartete er nicht, bis sich der Nebel klärte, sondern er dachte vielmehr an den Kerzenständer, den seine Freundin so nötig brauchte. Er begann zu laufen. Schneller und schneller rannte er. Das Bild des kleinen Gegenstandes tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Dann sprang er. Nur einen Augenblick später ließ er den Nebel hinter sich und landete in einem dunklen Raum, den er nie zuvor gesehen hatte. Ein niedriger Tisch stand in der Mitte des Zimmers, Jalousien waren vor den Fenstern heruntergezogen worden, und durch ihre Ritzen drang ein wenig Licht herein. Ein abgewetztes Sofa und ein paar nicht weniger zerschlissene Sessel standen um den Tisch herum. Dann sah er die Sporttasche auf einem der Sessel liegen. Bevor er darüber nachdenken konnte, griff er nach den Trageschlaufen. Erst nachdem seine Hand durch das Material hindurchgefahren war, kam ihm wieder in den Sinn, daß er sich nicht mehr in der realen Welt befand.

Bevor er seinen jetzigen Aufenthaltsort in Erfahrung brachte, wollte er sich erst einmal einen Überblick über diese Wohnung verschaffen. Er ging zu einer der Türen, die aus dem Raum hinausführten. Sie war geschlossen. Er griff nach der Klinke. »Verdammt, ich werde mich wohl nie daran gewöhnen«, sagte er zu sich und zog die Hand zurück. Er wandte sich um. Auch die andere Tür war geschlossen. Aber wenn seine Hand den Türgriff durchdringen konnte, wäre er dann auch imstande... Er beschloß, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Vorsichtig, mit ausgestreckten Händen ging er wieder auf die Tür zu - und durch sie hindurch! Einen kurzen Augenblick lang wurde es schwarz vor seinen Augen, dann aber sah er in den dahinterliegenden Raum. Er befand sich in der Küche dieser Wohnung. Es war niemand zu sehen. Also ging er zur zweiten Tür. Dort fand er einen langgestreckten Flur, der in zwei weitere Räume überging, das Badezimmer und das Schlafzimmer. Hier endlich fand er, was, oder besser wen er suchte. In dem kleinen Bett unter dem Fenster schlief ein junger Mann. Er war etwa fünfundzwanzig Jahre alt, hatte dunkles Haar und einen Schnurrbart. Manfred hatte den Einbrecher zwar nicht erkannt, war sich aber sicher, ihn nun vor sich zu haben. Er bedauerte es nur, daß er im Augenblick nichts unternehmen konnte. Er würde diesem Mistkerl am liebsten jeden Knochen einzeln brechen.

Die letzte Tür im Haus war die Wohnungstür. Sie führte in einen schmutzigen Hausflur zu einer Treppe. Manfred stieg sie hinunter und kam schließlich unten auf der Straße an. Er war in einer ziemlich heruntergekommenen Gegend. Die Fassaden der Häuser waren mit Graffitis und Sprüchen besprüht, überall lag Papier und anderer Unrat herum. In der Ferne hörte er Polizeisirenen. Er sah sich die Fassade des Hauses an, in dem er gerade gewesen war. Haus Nummer achtundsechzig, dachte er. Jetzt muß ich nur noch den Straßennamen herausbekommen. Er ging die Straße entlang, bis er an eine Kreuzung kam. Dort stand ein verbogenes Schild, auf dem man gerade noch den Namen Baustraße lesen konnte. Baustraße achtundsechzig. Alles klar.

Wieder nahm er Anlauf. Seine Schritte verhallten ungehört in den dunklen Gassen. Er sprang durch den Nebel hindurch und landete einen Augenblick danach wieder im Wohnzimmer. Diesmal blieb er jedoch rechtzeitig stehen. Sofort ging er zu dem flachen Schrank hinüber und begann in den drei Schubladen herumzusuchen. Endlich fand er, was er gesucht hatte, einen Stadtplan mit Straßenverzeichnis. Er nahm ihn mit ins Auto und studierte den Weg zu dem Haus, während er den Motor anließ. Dann schaltete er das Licht ein, schnallte sich an und fuhr los. Der lose Kies des Weges spritzte von seinen Reifen weg, als er beschleunigte und mit hohem Tempo die schmale Straße entlangfuhr.

Es dauerte sehr lange, bis er endlich die richtige Straße gefunden hatte. In diesen verwinkelten Gassen war es sehr leicht, sich zu verfahren, und er hatte dreimal umkehren müssen, weil er plötzlich in eine Sackgasse geraten war, die auf dem alten Stadtplan noch als durchgehende Straße verzeichnet war. Aber schließlich stoppte er seinen Tercel vor dem Haus mit der Nummer Achtundsechzig. Er stieg aus und öffnete den Kofferraum. Darin lag sein Werkzeugkoffer, aus dem er nun einen längeren Schraubenschlüssel holte. Dann ging er zur Haustür. Sie war geschlossen, allerdings war das Glas an einer Ecke schon so stark gesplittert, daß er nur ein wenig drücken mußte, um ein Loch in die Scheibe zu bekommen. Er griff hindurch und öffnete so die Tür zum Treppenhaus. Leise schlich er die Stufen zur ersten Etage hinauf und blieb vor dem Eingang der Wohnung stehen, in der er vor mehr als einer Dreiviertelstunde gewesen war.

Er betrachtete die Tür genauer und stellte fest, daß das leichte Holz einem gewaltsamen Öffnungsversuch kaum standhalten würde. Auch von innen hatte er keinen Riegel gesehen. Also holte er tief Luft und nahm Anlauf. Es gab einen heftigen Aufprall, und er hörte Holz splittern. Aber die Tür hielt. Ein weiteres Mal prallte seine Schulter gegen das Hindernis. Wieder krachte es. Verdammt, fluchte er innerlich. Jetzt ist der Hurensohn bestimmt schon wach! Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Seine Schulter pochte vor Schmerzen, aber er rannte dennoch wieder gegen die Tür, und dieses Mal zersplitterte die Holzfassung des Schlosses. Manfred taumelte in den dunklen Flur hinein. Er brauchte eine Sekunde, um sich zurechtzufinden, doch dann wußte er, wo er war. Aus dem Schlafzimmer waren Geräusche zu hören. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ein nur leicht bekleideter Mann mit Schnurrbart stand mit gezückter Waffe vor ihm. Manfred reagierte sofort. Seine Hand schleuderte ihm das Werkzeug entgegen, und es gab einen dumpfen Knall, als es den Kopf seines Widersachers traf. Als dieser zusammenbrach, löste sich ein Schuß aus der Pistole, und Manfred ging zu Boden. Sein Bewußtsein schwand zu schnell, als daß er die Schmerzen noch gespürt hätte.

Elke saß im Wartezimmer des Krankenhauses. Man hatte ihr bisher nicht erlaubt, ihre Tochter zu sehen. Sie hatte furchtbare Angst um das Mädchen. Wenn es Manfred nicht rechtzeitig gelang den Kerzenständer zu finden, wäre sie verloren. Unruhig stand sie auf und ging wieder im Korridor auf und ab, so wie sie es schon dreimal getan hatte. Diese Situation war einer anderen, längst vergangenen, so verdammt ähnlich. Auch damals hatte sie auf dem Gang dieses Krankenhauses gestanden und war auf und ab gegangen. Sie wartete auf das Ende der Operation ihres Mannes. Er hatte sich bei einem schweren Autounfall viermal überschlagen, nachdem ihm ein Jugendlicher auf einer Landstraße mit einhundertsechzig Stundenkilometern in die Beifahrerseite hineingefahren war. Der Junge und seine neunzehnjährige Freundin waren sofort tot. Harald wurde mit schweren inneren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Elke hätte beinahe einen Schock erlitten, als man ihr die Nachricht mitteilte. Nun, als sie auf dem Korridor auf das Ende der Operation wartete, war sie ebenfalls einem Schock sehr nahe. Schließlich kam einer der Ärzte aus dem Operationssaal, und als sie fragte, wie es ihrem Mann ginge, konnte sie an seiner Miene ablesen, daß er seine Verletzungen nicht überlebt hatte.

Mit Gewalt verdrängte sie diese tragische Erinnerung. Dies war nicht ihr Mann, der da drinnen mit dem Tode rang, dies war ihre Tochter. Und Manfred würde schon rechtzeitig kommen. Langsam wanderte sie ins Wartezimmer zurück und setzte sich auf einen der harten Stühle.

»Frau Hollmann?« Ein ganz in weiß gekleideter, älterer Mann stand vor ihr. Sie war eingeschlafen.

»Ja?«

»Ich bin Doktor Hartz. Sie können jetzt zu ihrer Tochter hineingehen. Aber sie wird nicht mit ihnen sprechen können.« Sie stand auf und der Mann führte sie über den Flur bis zur Intensivstation. Sie betraten den Raum und gingen zu Tanja ans Bett, wo sie immer noch reglos lag.

»Wie geht es ihr?« fragte Elke leise. Sie hatte furchtbare Angst vor der Antwort.

»Bisher unverändert. Sie hat eine Menge Blut verloren. Wir können nur hoffen, daß sich ihr Körper erholt.« Er wollte noch etwas sagen, schwieg dann aber.

Eine geraume Zeit stand sie am Bett ihrer Tochter und lauschte auf das unregelmäßige Piepen des EKG, bis Dr. Hartz sie hinausbegleitete. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie das Krankenhaus verließ. Sie hatte nicht einmal mehr das Vertrauen in sich, daß Manfred noch rechtzeitig kommen würde.

Er wußte nicht, wie lange er hier schon lag, aber draußen war es noch dunkel. Der stechende Schmerz in seinem linken Oberschenkel war beinahe unerträglich. »So eine Scheiße«, fluchte er mit zusammengebissenen Zähnen. Er versuchte sich aufzurichten, sank aber gleich darauf mit einem leisen Stöhnen zurück. Anscheinend war sein Bein so sehr verletzt, daß es sein Gewicht nicht mehr tragen konnte. Aber irgendwie mußte er es schaffen, an den Kerzenständer heranzukommen. Er mußte ihn zu seiner Freundin bringen. Der Gedanke, daß sie sterben könnte, besiegte schließlich seine Schmerzen, und er zwang sich, aufzustehen. Er verlagerte sein Gewicht auf das gesunde Bein und ruhte sich einen Augenblick aus. Nachdem die erste schmerzvolle Welle abgeklungen war, stieß er sich vorsichtig von der Wand ab und stand nun auf einem Bein. So humpelte er den Flur entlang bis zur Wohnzimmertür, wo er wieder zusammenbrach. Erneut jagten die Schmerzen durch sein Bein, und unwillkürlich schrie er auf. Tränen der Qual und der Wut strömten an seinen Wangen hinunter und benetzten den schmutzigen Fußboden. Er kroch weiter, durch die Tür hindurch bis zum Tisch. Dort blieb er kurz liegen und schöpfte neue Kraft. Schließlich konnte er die Sporttasche erreichen, die immer noch auf dem Sessel lag. Eiligst zog er sie an sich und machte kehrt.

Er litt Höllenqualen, während er den Flur durchquerte. Der Kopf des Bewußtlosen zeigte eine schwere Wunde, aus der Blut sickerte. Plötzlich fühlte Manfred sich schuldig. Wenn der andere nun tot war? Nein, dann würde das Blut nicht mehr so fließen. Aber er konnte jederzeit sterben, und dann war er ein Mörder. Ein neuerlicher Schmerz in seinem Bein verscheuchte diese Gedanken, und er konzentrierte sich wieder auf seinen Weg. Endlich hatte er die nun nutzlose Wohnungstür erreicht und kroch ins Treppenhaus. Er ließ sich rücklings zwei Stufen hinuntergleiten und schob dann sein gesundes, rechtes Bein unter das verletzte, um es vor heftigen Stößen zu schützen. So gelangte er Stufe um Stufe tiefer, allerdings konnte er es nicht vermeiden, daß ihn bei jedem weiteren Abstieg ein heftiger Schmerz durchfuhr. Den Weg zum Wagen legte er auf allen vieren zurück. Er lehnte sich an die Karosserie und schloß die Fahrertür auf.

Als er endlich im Wagen saß, dankte er der glücklichen Vorsehung, daß er einen Automatic besaß, denn mit nur einem Bein hätte er einen Schaltwagen gewiß nicht fahren können. Aber auch so war es eine sehr schwierige Angelegenheit, zumal sein Bewußtsein durch die Schmerzen ziemlich getrübt war. Wäre er jetzt in eine schwierige Situation gekommen, wäre unweigerlich ein Unfall die Folge gewesen. Er blinzelte ein paar Tränen fort und fuhr langsam die Straße hinunter. Er war schon ein paar Minuten unterwegs, als ihm einfiel, daß er das Licht noch nicht eingeschaltet hatte. Er holte dies nach und lenkte den Wagen weiter durch die nächtliche Stadt.

Zum Glück waren die Straßen bis zum Krankenhaus beinahe verlassen. Zwischendurch hätte er zweimal fast das Bewußtsein verloren. Aber jedesmal zwang er sich, wach zu bleiben. Um seiner selbst und um Tanjas Willen durfte er jetzt nicht schlappmachen. Er war kurz vor dem Ziel. Schon sah er die Lichter des Krankenhauses vor sich auf der Straße. In weniger als einer Minute würde er dort sein.

Elke saß auf der langen Bank vor dem großen Gebäude. Ab und zu ging jemand an ihr vorbei, doch sie bemerkte das kaum. Drei- oder viermal kam ein Krankenwagen die Straße herunter, doch nicht einmal das Heulen des Martinshorns konnte ihre Lethargie durchbrechen. So mußte man sich wohl fühlen, wenn man zum zweiten Mal einen geliebten Menschen verlor. Was nützten schon all ihre kleinen PSI-Tricks, denen sie schon so viel Zeit in ihrem Leben gewidmet hatte. Sie konnten ihrer Tochter auch nicht mehr helfen. Sie war gerade im Begriff aufzustehen, als sie einen wild schlingernden Wagen bemerkte, der sich mit sehr hoher Geschwindigkeit dem Krankenhaus näherte. Sie sah noch einmal genauer hin. Tatsächlich! Das war der rote Toyota, den Manfred fuhr. Neue Hoffnung keimte in ihrem Herzen auf, und sie begann zu laufen.

Mit quietschenden Reifen schlingerte der Wagen auf den Parkplatz und kam dort zum Stehen. Dann öffnete sich die Fahrertür und ein Mann stieg aus. Doch irgendetwas schien nicht in Ordnung zu sein. Er schwankte, stieß einen Schrei aus und fiel auf den gepflasterten Boden. Wenige Sekunden später hatte sie ihren zukünftigen Schwiegersohn erreicht. Er blutete aus einer Wunde am Bein, und sein Gesicht war schmerzverzerrt. Aber als sie ihm helfen wollte, stieß er ihre Hand zurück. »Kümmere dich nicht um mich. Hilf Tanja!«

»Der Kerzenständer! Wo ist er?«

»Auf der Beifahrerseite, in der Tasche«, keuchte Manfred. Er bekam gerade noch mit, wie sie sich in den Wagen beugte, dann versank er in einer tiefen Ohnmacht.

Elke durchwühlte eiligst die Tasche, bis sie endlich den goldenen Gegenstand in ihren Händen hielt. Schnell schraubte sie den Fuß des Ständers ab und brachte eine kleine Ampulle zum Vorschein, die mit einer rötlichen Flüssigkeit gefüllt war. Sie steckte sie in ihre Tasche. Dann rannte sie ins Krankenhaus zurück. Nachdem sie einem der Pfleger klargemacht hatte, daß auf dem Parkplatz ein Verletzter lag, eilte sie weiter, die Treppen hinauf. Sie achtete nicht auf die Rufe, die sie begleiteten.

Im zweiten Stockwerk angekommen, hastete sie über den Gang bis zur Intensivstation. Sie blickte sich kurz um und verschwand dann schnell hinter der Tür. Tanja lag immer noch in ihrem Bett. Das Zischen des Beatmungsgerätes erfüllte zusammen mit dem eintönigen Piepsen den Raum. Elke holte die Ampulle heraus und öffnete sie. Ein leichter Geruch nach Anis und Zimt erreichte ihre Nase. Vorsichtig öffnete sie Tanjas Lippen und ließ die Flüssigkeit in ihren Mund rinnen. Dann verschloß sie das kleine Fläschchen wieder und steckte es in ihre Tasche zurück. In diesem Augenblick stürmten zwei Pfleger in den Raum.

»Was machen Sie hier? Wer sind Sie?« fragte einer von ihnen.

»Ich bin die Mutter dieses Mädchens«, sagte Elke. »Ich wollte sie nur sehen, das ist alles.«

»Sie dürfen aber nicht hier sein. Kommen Sie bitte mit uns mit. Wir werden Sie hinausbegleiten.«

Mit einem letzten Blick auf ihre schlafende Tochter drehte sie sich um. Die Pfleger nahmen sie bei den Armen und brachten sie zur Tür. Doch gerade, bevor einer der beiden sie öffnen konnte, hörten sie eine Stimme: »Mutter?«

*

Zwei Tage später standen Manfred und Elke an Tanjas Bett in ihrem Krankenzimmer. Man hatte sie heute von der Intensivstation hierher verlegt, und sie durfte wieder Besuch empfangen. Manfred wurde nach einer kurzen Operation wieder entlassen und trug nun einen Gipsverband am linken Bein. Man hatte ihm ein paar Fragen gestellt, und er hatte geantwortet, daß er auf der Straße überfallen worden war und sich gerade noch hatte retten können. Tanja aber wußte von all diesen Ereignissen nichts, und Manfred und Elke waren sich einig, es noch eine Weile dabei zu belassen.

»Der Arzt hat gesagt, daß du in einer Woche wieder auf dem Damm sein wirst«, sagte Manfred. »Er meinte, ihm sei ein solcher Heilungsprozeß noch nie untergekommen.«

»Um so schneller kann ich wieder bei dir sein«, sagte sie.

Manfred umarmte sie. Er konnte eine Träne nicht zurückhalten. Sie rann über seine Wange und benetzte ihr weißes Hemd. Ich laß' dich nie wieder im Stich! Nie wieder!

ENDE