Besser denn je
(Eine surrealistische Science-Fiction-Kurzgeschichte (C)10.10.1997 by Dario Abatianni)

Seit er seine Augen geöffnet hatte, blickte er in das unglaubliche Panorama, das sich ihm bot. Er stand am Rand einer Klippe, deren Steilhang eine Höhe von gut fünfzig Metern haben mußte. Unten rauschte das glasklare Wasser des Meeres geräuschvoll gegen das Gestein, wo es in abertausend winzige Tröpfchen zersprang. Die glatte, doch sich immer in Bewegung befindende Fläche des Wassers erstreckte sich vor seinen Augen bis zum Horizont, wo der strahlende Feuerball der Sonne gerade aufging.

Sein Körper fühlte sich leicht an, und er streckte die Arme horizontal zu seinen Seiten aus. Die Brise, die zum Meer hin wehte, verfing sich in seiner Kleidung und zerrte an ihr, bis er spürte, wie seine Füße den Boden unter sich verloren. Sanft stieg er auf, ließ sich von der Luft tragen, wie ein Blatt im Herbst. Obwohl ihm dies bisher noch nie widerfahren war, fühlte er keine Angst in sich aufsteigen. Es schien einfach richtig zu sein. Mit tiefen Zügen atmete er die frische Luft des Morgens ein, während er noch ein Stück emporschwebte. Er fragte sich, wie er seinen Flug würde lenken können. Doch im selben Augenblick trieb er schon über dem Meer dahin, genau, wie es zuvor seine Gedanken gewesen waren. Bewegungen waren überflüssig; lediglich ein Wunsch von ihm genügte, um seine Richtung, Höhe oder Geschwindigkeit zu ändern.

Während er knapp über der Meeresoberfläche dahinglitt, rief er der Sonne seine Freude entgegen. Um sich an seine neugewonnene Freiheit zu gewöhnen, schraubte er sich erneut in die Höhe, überschlug sich in der Luft und drehte wilde Kapriolen, doch nie war er auch nur am Rande eines Absturzes.

Dann streckte er seinen Körper kerzengerade aus und wagte einen Sturzflug. Mit nach vorn gestreckten Armen durchbrach er die Wasseroberfläche und tauchte in die Welt des Ozeans ein. Das klare Wasser umgab ihn wie eine zweite Haut, doch rang er nicht nach Luft. Er schien das Wasser wie Luft einatmen zu können. Fasziniert von dieser neuen Erkenntnis tauchte er tiefer hinab, bis er den Grund des Meeres erreicht hatte. Hier, in einer Welt, die seinesgleichen gewöhnlich verschlossen war, traf er auf seltsame und phantastische Wesen und Pflanzen, von deren Existenz er bislang nicht einmal etwas geahnt hatte. Ausgelassen schloß er sich einer Schule bunt glitzernder Fische an, die in wilder Formation durch das Wasser glitten. In ihrer Mitte ließ er sich treiben, bis ihn der Wunsch nach dem Land über dem Meer wieder einholte. Fröhlich verabschiedete er sich von seinen Begleitern mit einem Winken und stieg bis an die Oberfläche auf. Das Wasser perlte an ihm ab wie von einem gewachsten Zeltdach, als er wieder in den Himmel aufstieg.

Aus der Luft erkannte er die Küste, von der aus er losgeflogen war. Er wandte sich dorthin um, verließ das rauschende Meer und trieb bald über dem Festland dahin. Das Küstengebiet lag friedlich unter ihm. Ein schmaler Sandweg folgte der Uferlinie, um wenig später ins Landesinnere zu führen. Er folgte dem Verlauf des Pfades, passierte kleine Bauernhäuser, Dörfer und Flüsse. Überall herrschte das satte Grün des Sommers, das er bisher noch nie in einer solchen Pracht gesehen hatte. Wieder sog er voller Genuß die Luft ein. Sie roch sauber und würzig, keine Spur von Schmutz oder Abgasen, die seine Nase sonst immer wahrgenommen hatte. Es gab nichts, das den vollkommenen Eindruck der Welt zunichte machen konnte.

Gerade überflog er einen ausgedehnten Wald, als sich die Bäume teilten, um einem großen See Platz zu machen, dessen klares, blaues Wasser wie ein unruhiger Spiegel glitzerte. Unzählige Vögel hatten sich auf ihm und an seinem Ufer niedergelassen, doch als er sich näherte, flogen sie auf, vereinigten sich zu mehreren Schwärmen und umkreisten ihn wie einen der ihren. Er stieg in ihr Spiel mit ein, schloß sich mal diesem, mal einem anderen Schwarm an, gewann an Höhe und senkte sich wieder hinab, immer umgeben von hundert Vogelstimmen, die ebenfalls das Gefühl der absoluten Freiheit genossen.

Schließlich verließ er die Schwärme und schwebte weiter, einem unbekannten Ziel entgegen. Er ließ das flache Land hinter sich und erreichte felsige Berge, die sich in den Himmel erhoben. Leichten Herzens folgte er ihren Wänden hinauf bis hin zu den ersten Schneefeldern. Doch trotzdem wurde ihm weder kalt, noch fiel ihm das Atmen schwerer. Er stieg einfach immer weiter auf, ließ bald auch die höchsten Berggipfel hinter sich und durchbrach die Decke der Welt.

Das Land unter ihm wurde immer kleiner, begann sich zu krümmen und auf einem riesigen, blauen Ball Platz zu nehmen. Über sich - nein, um sich herum - dehnte sich eine weite, schwarze Fläche aus, die hier und da von hellen Punkten durchbrochen wurde. Die Sonne sandte ihre Strahlen in diese Unendlichkeit hinaus, unbeachtet von all den Sternen, die er um sich herum erkennen konnte. Zu diesen Sternen nun wollte er.

Seine Geschwindigkeit stieg kontinuierlich an, der blaue Ball der Erde verschwand schon bald in der unendlichen Schwärze. Doch immer noch ängstigte ihn dieses Erlebnis nicht. Er war eher neugierig, was er noch alles erleben würde. Um sich herum sah er die Sterne, die ihre weiten Wege quer durch das All zurücklegten. Einer davon wurde beständig größer, er näherte sich ihm. Von weitem war er ein kleiner Punkt inmitten der Dunkelheit gewesen, doch je näher er kam, desto deutlicher konnte er die Wirbel und Flecken erkennen, die auf seiner Oberfläche wogten und sich ständig veränderten.

Dann verließ der diesen Stern und trieb weiter zu einem Punkt im All, den er von hier aus noch nicht erkennen konnte. Doch schien er diesen Weg nicht selbst zu wählen, er wurde dorthin gezogen. Entspannt ließ er sich auf dem kosmischen Sog treiben, der ein Ziel für ihn ausgesucht hatte. Plötzlich krümmte sich das Licht der Sterne, bis es einen Trichter formte, in dessen Mitte er nun hineingetragen wurde. Seine Geschwindigkeit nahm kontinuierlich zu, während sich die Wände des Trichters beständig um ihn herum verengten. Bunte, grell leuchtende Lichtblitze und -strahlen umzuckten ihn. Sie schossen dicht an ihm vorbei, während er immer schneller durch den Tunnel aus Sternen eilte. Nun hörte er zum ersten Mal etwas. Es klang wie ein dumpfes Summen, das immer lauter wurde, je weiter er durch die Röhre flog. Jetzt spürte er auch eine leichte Beunruhigung in sich, als wenn etwas auf ihn zu kam, das er nicht erfahren wollte.

Zum ersten Mal, seit er an diesem Morgen losgeflogen war, überkam ihn Angst. Er wehrte sich gegen seinen Flug, doch war er schon zu schnell, um anhalten, geschweige denn umkehren zu können. Mit einem Aufschrei griff er sich an seine rechte Wange, wo ihn gerade einer der Blitze gestreift hatte. Ein kribbelnder Schmerz mache sich dort breit. Dann prallte ein weiterer Strahl an seine andere Wange. Gleichzeitig wurde auch das Summen lauter, vermischt mit merkwürdigen, dumpf klingenden Stimmen, die drängend auf ihn einsprachen, ohne daß er auch nur eines der Worte verstand. Plötzlich gab es einen lauten Knall, der in seinen Ohren widerhallte, und alles um ihn herum versank in gleißendem Licht ...

*

Das Gesicht einer Frau blickte ihn besorgt an. »Bist du wach?« fragte sie. »Entschuldige, wenn ich dir weh getan habe, aber das war anscheinend der einzige Weg, dich wieder munter zu bekommen.«

Langsam kehrten Richards Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Er saß wie üblich auf dem Stuhl im Institut für Traumfertigung. Benommen griff er sich an den Kopf und stellte fest, daß er immer noch den Schlafmanipulator trug. Vorsichtig setzte er das Gerät ab und legte es auf den kleinen Tisch neben seinem Platz. »Was habt ihr gemacht? Diesmal war es besser denn je!« Begeistert begann er seinen Forschungskollegen von seinem Traum zu erzählen. Er ließ keines der faszinierenden Details aus. »Es war unglaublich real!« schloß er.

»Richard, ich glaube, ich muß dir etwas sagen.«

»Was denn?« fragte er überrascht. »Sagt bloß, ihr habt die Einstellungen-«

»Nein, die haben wir noch«, sagte Lydia betrübt. »Es ist nur ... Du bist eingeschlafen und ... Wir hatten das Gerät überhaupt nicht eingeschaltet.«

ENDE